Schattenkind

November 2016

Johann ist ein absolutes Wunschkind. Stefan und mir war schon immer klar, dass Emil trotz seines Herzfehlers kein Einzelkind bleiben sollte und so wurde ich sechs Wochen nach Emils langem Krankenhausaufenthalt 2011 recht schnell wieder schwanger. Und diese Entscheidung haben wir seitdem nicht einen einzigen Tag bereut. Ich selber bin mit zwei Brüdern aufgewachsen und das wollte ich auch für meinen Sohn. Meine Kinder hängen sehr aneinander und jeder profitiert vom anderen, der Große lernt vom Kleinen und umgekehrt ist es genauso.  Aber trotzdem läßt mich die Angst nicht los das ich das alles nicht schaffe, dass die Aufgabe mich überfordert beiden Kindern gerecht zu werden, ohne das einer zurückstecken muss. Diese Sorge teile ich sicherlich mit allen mehrfach Eltern, aber Emil fordert uns auf Grund seines Herzfehlers natürlich viel mehr, als das bei einem gesunden Kind der Fall wäre. Aber auch Johann braucht mich. Ich versuche ihm das Gefühl geben, dass er für uns genauso wichtig ist wie sein Bruder. Denn das ist er. Ich liebe beide so sehr. Und trotzdem scheitere ich häufig so kläglich daran die beiden das auch wissen zu lassen.


Johann ist mein Kleiner, mein „Baby“, obwohl er im Januar 2017 schon fünf Jahre alt wird. Er ist frech und wild und wunderbar, er tobt gerne, kann sich sehr gut durchsetzen und hat kein Problem damit, auch mal die Hand gegen seinen älteren Bruder zu erheben wenn ihm etwas nicht passt. Aber er hat noch eine andere Seite, er ist sensibel, feinfühlig und manchmal auch richtig schüchtern. Er braucht mich noch sehr, möchte immer an meiner Hand laufen wenn wir unterwegs sind und ist fremden Menschen gegenüber ersteinmal mißtrauisch. So war er schon als Baby, ich habe noch kein Kind kennengelernt was so gefremdelt hat wie mein jüngerer Sohn. Eine Zeit lang hat er außer Stefan und mir kaum eine andere Person akzeptiert und sofort angefangen zu weinen, wenn es jemand gewagt hat ihn auch nur anzuschauen. Mittlerweile ist das natürlich besser geworden, aber man merkt im trotzdem deutlich an, dass er sehr unter Emils Erkrankung leidet. Ganz oft bricht da etwas aus ihm heraus, was mir Sorgen bereitet.


Er hat jetzt schon zu viel erlebt in seinen jungen Jahren. So habe ich in den letzten Monaten beobachten müssen , dass er sehr große Angst davor hat, dass Emil etwas passieren könnte. Er versucht, auf ihn aufzupassen, ihn zu schützen, die Verantwortung für seinen älteren Bruder zu übernehmen. Und das bricht mir das Herz.  Er war damals dabei, als Emil von der Mauer gestürzt ist, hat das Blut gesehen und mitbekommen, wieviel Angst ich um Emil hatte. Stefan und ich versuchen alles um ihn von dieser Bürde zu befreien, aber das gestaltet sich schwieriger als erwartet. Oft liege ich abends vor dem Einschlafen mit ihm im Bett und versuche meinen Jüngsten durch Gespräche von seinen Sorgen zu befreien. Johann erzählt mir dann, dass er sich davor fürchtet, dass Emil wieder von der Mauer fallen oder sich anderweitig verletzten könnte, so dass er wieder ins Krankenhaus muss. Denn er weiß, das ich dann wieder bei Emil in der Klinik bin und davor hat Johann große Angst. Er hängt sehr an mir und durch die fünf Wochen die wir in diesem Frühjahr getrennt waren, hat sich das noch verstärkt. Er kommt noch immer fast jede Nacht in mein Bett weil er Angst hat, rollt sich auf die Seite, nimmt seinen Gu (seine Stoffkuh) fest in den Arm uns schläft weiter, in dem Wissen nicht alleine zu sein.


Als ich Johann vor ein paar Wochen zusammen mit Emil vom Kindergarten abholte, zeigte sich seine Angst wieder einmal besonders deutlich. Johann nahm auf dem Rückweg wie immer meine Hand und forderte, dass ich auf der Treppe die zum Kindergarten führt auch Emils Hand nehmen solle, zu groß war seine Angst sein Bruder könne die Treppe herunter stürzen. Am Fuß der Treppe traf ich auf eine andere Kindergartenmutter, mit der ich ein Gespräch begann. Johann stand die ganze Zeit neben mir und lies meine Hand nicht los, aber Emil wurde es zu langweilig und er machte sich alleine auf den Heimweg. Wir wohnen zwei Minuten zu Fuß vom Kindergarten entfernt, so daß ich darin gar kein Problem sah, schließlich ist Emil schon acht Jahre alt. Aber Johann wurde panisch und rief nach seinem Bruder. Dann zog er mich am Arm, sah mich mit großen, ängstlichen Augen an und sagte: „der Emil geht alleine, Mama, halt den auf, sonst passiert dem noch was!“ Ich versuchte meinen Jüngsten zu beruhigen, sagte ihm das Emil schon groß ist und die paar Meter alleine laufen kann ohne das ihm etwas passiert. Aber Johann lies sich nicht beruhigen und so brach ich das Gespräch ab und wir folgten Emil, der inzwischen schon wartend vor unserer Haustür stand. Und solche Situationen passieren zur Zeit häufiger. Johann hat einfach Angst.


Ein anderes Mal verletzte sich Johann beim Spielen an der Lippe und blutete etwas. Er reagierte völlig hysterisch als er das Blut sah, schrie wie von Sinnen und lies es nicht zu, dass ich das Blut wegwischte um mir die Wunde anzusehen. Erst nach über fünf Minuten schaffte ich es, ihn etwas zu beruhigen. Und so ähnlich verhält er sich jedes Mal wenn er sich wehtut. JedesMal fragt er als erstes panisch ob es blutet und läßt sich nur schwer beruhigen.


Mein Jüngster war tagsüber über ein Jahr lang trocken, doch seit Emils OP nässt er häufig wieder ein. Es gibt gute Tage an denen er es schafft trocken zu bleiben und schlechtere Tage, an denen es ihm zweimal passiert. Man merkt ihm an, dass ihm das unangenehm ist und er sich dafür schämt, aber er schafft es trotzdem nicht rechtzeitig auf die Toilette zu gehen. Ich versuche das Ganze nicht groß zu thematisieren und emotional für ihn da zu sein, aber auch ich habe schlechte Tage an denen mir das nicht gelingen will. Wir haben es mit einem Belohnungssystem versucht, so hat er beispielsweise jeden Abend einen „Pipifisch“ – einen kleinen Kühlschrankmagneten in Form eines Fisches – erhalten, wenn er an diesem Tag trocken geblieben ist. Bei zehn Fischen bekam er ein kleines Geschenk. So hatte ich das vor ein paar Jahren schon bei Emil gehandhabt und es hatte gut funktioniert. Leider klappt das bei Johann nur mäßig, an manchen Tagen schafft er es, an anderen wiederum nicht. Stefan und ich schicken ihn mehrmals täglich zur Toilette und trotzdem ist die Hose abends oft nass. Er tut mir manchmal so leid, wenn er mir abends verzweifelt mitteilt, dass es heute wiede keinen Pipifisch gibt. Und an manchen Tagen bin ich auch einfach nur genervt. Ich versuche das ganze locker zu nehmen, schließlich ist es nur eine Kleinigkeit, aber leider gelingt mir das nicht immer.


An manchen Tagen verhält sich Johann seinem Bruder und auch mir gegenüber sehr aggressiv. Er haut wenn ihm etwas nicht passt, hört nicht mal ansatzweise wenn ich ihm was sage und bockt rum. Wenn ich dann schimpfe oder ihn in sein Zimmer schicke, bekommt er Angst. Trotzdem bin ich manchmal so wütend auf ihn, dass ich ihn ziemlich anschreie. Das tut mir im Nachhinein so leid, denn ich weiß ja selber, dass er in dem Moment nicht anders kann, aber ich bin auch nur ein Mensch und meine Nerven sind zur Zeit nicht besonders stark. Trotzdem tut ihm das nicht gut und ich habe ziemliche Angst davor, die ganze Situation noch schlimmer zu machen. Deshalb gehe ich auch sofort zu ihm wenn meine Wut verauscht ist, nehme ihn in den Arm, höre ihm zu und sage ihm, wie sehr ich ihn liebe. Ich weiß, dass das mein Geschimpfe nicht besser macht, aber ich weiß auch, dass sich mein Kleiner geliebt fühlt.


Johann ist ansonsten ein fröhliches und aufgewecktes Kerlchen. Er hat im Kindergarten sehr schnell Freundschaften geschlossen und geht auch gerne hin, zum Glück. Er ist dort sehr lieb, hört auf die Erzieherinnen, macht selten Quatsch  und fällt nur positiv auf. Zu Hause spielt er viel mit seinem Bruder, kann sich aber auch über lange Zeit alleine beschäftigen. Ihm ist selten langweilig, denn er besitzt sehr viel Phantasie. Mein Sohn baut die tollsten Dinge aus Lego, frei und ohne Anleitung, er bastelt und malt gerne und ist sehr kreativ. Ich bin so stolz auf dieses wunderbare Kind!