Archiv für den Monat: September 2018

Zehn Jahre Herzchenmama

09.09.2008

Rückblick:

19 Uhr. Wo bleibt bloß der Kinderkardiologe? Der Kinderarzt hat drei Tage zuvor bei der U2 ein Herzgeräusch gehört, hat allerdings dazu gesagt, dass dies bei manchen Säuglingen nach der Geburt vorkommen kann. Seit Stunden warten mein Freund und ich nun trotzdem auf den Spezialisten, damit er bei unserem fünf Tage alten Sohn einen Herzultraschall durchführt. Wir sind kurz davor zu gehen. Was sollen wir noch hier in der Entbindungsklinik? Das ist doch sinnlos! Zeitverschwendung! Ich bin müde und will nach Hause. Ich habe kein Bett mehr in dieser Klinik, mein Zimmer wurde längst für eine andere Frau freigegeben und so sitze ich mit meinem Partner und meinem Baby – das in seinem Glasbettchen schlummert – im Flur und warte. Das Neugeborene hat mich die fünf Tage und Nächte im Krankenhaus gefordert, der Kaiserschnitt war anstrengend und kräftezehrend. Können wir diesen blöden Ultraschall nicht später nachholen, in ein paar Tagen? Unser Sohn sieht rosig aus, trinkt, liegt gut im Gewicht. Es wird doch sowieso alles gut sein. Ich mache mir wenig Sorgen.

Endlich kommt der Kinderkardiologe der hiesigen Kinderklinik. Nett schaut er aus, ein kleiner Mann mit perfekt sitzenden Haaren und Bart, der genau die Art von Schuhen trägt wie ich sie mag. Abgespannt sieht er aus und gestresst, aber er ist freundlich.

Er führt uns auf die Neugeborenenintensiv der Entbindungsklinik. Ich bin geschockt, sowas hab ich nie zuvor gesehen, überall winzige Babys in Inkubatoren, ständig piept einer der Monitore, schlägt Alarm. Diese kleinen, hilflosen Würmchen irritieren mich, wie sie da so schutzlos in ihren Nestchen im Inkubator liegen, machen mir Angst. Manche von ihnen sind kleiner als eine Hand. Trotzdem konzentriere ich mich irgendwie wieder auf meinem zauberhaften Sohn, er liegt mittlerweile auf einer schmalen Liege, der Kinderkardiologe holt das Ultraschallgerät und beginnt mit der Untersuchung. Unser Baby wird unruhig, möchte weinen, mein Partner steckt ihm den Finger in den Mund und der kleine Mann beginnt verzweifelt zu saugen. Die Zeit vergeht langsam, wie in einem Traum, die Müdigkeit lässt alles unwirklich erscheinen.

Irgendwann – nach einer gefühlten Ewigkeit – teilt uns der Kardiologe mit, dass unser Sohn nicht mit uns nach Hause geht an diesem Abend, dass er einen schweren Herzfehler hat und behandelt werden muss. Ich verstehe nicht genau was er sagt aber meine Welt bricht zusammen. Der Arzt setzt sich mit der Kinderklinik in Verbindung, man teilt uns mit, dass unser Baby nun verlegt werden muss. Ich verstehe noch immer nichts, meine Brüste schmerzen, mein Kind weint. Ich darf ihn vorher nochmal anlegen, eine junge Ärztin schaut mich mittleidig an. Ich weine, stille mein Kind und warte auf das, was da noch kommen mag. Später wird mein Baby in einen Transportinkubator gelegt, man sagt uns, dass kein Platz für uns im Krankenwagen ist, dass wir in die Kinderklinik kommen sollen. Wie betäubt gehen wir an dem Kinderzimmer – in dem die anderen, rosigen und gesunden Babys liegen – vorbei. War unser Kind nicht eben noch eines von ihnen?

In dem Zimmer in dem ich fünf Tage mit meinem Kind lag, steht der Autositz, der darauf wartet, dass unser Baby in ihm liegt. Ich schaffe es nicht meine Zimmernachbarin aufzuklären, wir nehmen mein Gepäck, den Autositz und gehen wie Zombies zum Auto meines Freundes. Wir fahren in die Kinderklinik, die zehn Minuten entfernt ist. Es ist still und dunkel in unserer Stadt, nicht viele Autos sind unterwegs.

Wir erfahren, dass der Krankenwagen mit unserm Sohn bereits gelandet ist, also erfragen wir uns den Weg zur Intensivstation. Dort lässt man uns im Flur warten. Mittlerweile ist es neun Uhr, zehn Uhr? Ich weiß es nicht mehr. Ich höre durch die Tür ein Neugeborenes schreien und weiß nicht, ob es meines ist. Irgendwann kommt der Kinderkardiologe mit den schönen Schuhen und teilt uns mit, dass man hier nichts für unser Kind tun kann. Dass er sich bereits mit dem Kinderherzzentrum Gießen in Verbindung gesetzt hat und unser wunderschönes, kleines Baby nun dorthin verlegt werden soll. In eine fremde Stadt soll es gehen, nicht nach Hause in meine Arme, in mein Bett. Wieder wird der kleine Mensch – der inzwischen einen Zugang am Kopf erhalten hat – in den Transportinkubator gelegt, wieder heißt es, dass im Krankenwagen kein Platz ist, wieder sollen wir alleine fahren, ohne unser Kind. Wir fahren also los und ich sage zu meinem Partner, dass ich ihn liebe. Wir versuchen uns Halt zu geben, zu verstehen, was da grade passiert.

In Gießen angekommen, verfahren wir uns trotz Navi. Die Uniklinik Gießen ist grade im Umbau, der Fahrer des der Krankenwagens hat sich ebenfalls verfahren und kommt nach uns an. Auf der Kinderintensiv werden wir von einer Nachtschwester in einem roten Kittel empfangen und in ein Zimmer geführt, später erfahren wir, dass es sich dabei um das Elternzimmer handelt. Es ist ein karger Raum mit einem Tisch aus Kiefernholz in der Mitte, an dem einige Stühle stehen. In der Ecke steht – abgetrennt durch eine spanische Wand – eine Milchpumpe. Wir warten. Mittlerweile mag es zwölf Uhr sein, vielleicht auch später. Hin und wieder höre ich ein Kind stöhnen, schlägt ein Monitor Alarm, ansonsten ist es still. Ich frage die nette Schwester, ob ich Milch abpumpen darf. Wie ein Häuflein Elend sitze ich vor der mir völlig fremden Milchpumpe in einem fremden Elternzimmer in einer fremden Stadt und versuche, irgendwie Milch aus mir herauszupressen für mein Kind, von dem ich nicht weiß was grade mit ihm passiert. Das Stöhnen des Kindes macht mir Angst, warum wird ihm nicht geholfen, warum kann man ihm den Schmerz nicht nehmen? Irgendwann kommt ein Arzt zu uns und klärt uns darüber auf, was genau mit dem Herzen unseres Sohnes nicht stimmt. Ich bin übermüdet, voller Hormone und voller Angst und verstehe kein Wort. Ich verstehe nur, dass mein winziges Baby hier bleiben soll und wir nach Hause fahre sollen. Alleine und mitten in der Nacht. Morgen solle dann ein Herzkatheter stattfinden und wenn das nicht funktioniert, eine OP. Eine was? Ein so kleiner Mensch soll operiert werden? Wie soll das funktionieren? Unser Sohn hat inzwischen die abgepumpte Muttermilch erhalten. Wie dürfen kurz zu ihm um uns zu verabschieden. Der Arzt teilt uns mit, dass es keinen Sinn macht, morgen früh vor dem Katheter hier aufzutauchen. Wir sollen nach Hause fahren, uns ausschlafen und morgen wird man weiter sehen. Es ist nach zwei Uhr nachts. Wir sind erschöpft, schockiert, völlig mit den Nerven runter. Mein Freund und ich setzten uns ins Auto und kommen irgendwie nach Hause. Danach fallen wir wie tot ins Bett.