13.01.2011
Wir sitzen im Elternzimmer der Intensivstation unseres Kinderherzzentrums und warten auf das Ende der Operation. Um acht Uhr ist unser Sohn in den OP gebracht worden, jetzt ist es ca. 15 Uhr, die Zeit will nicht so wirklich verstreichen. Ich bin nervös, habe Angst. Noch haben wir keine Nachricht aus dem Operationssaal bekommen ob der Eingriff schon beendet ist und wann unser Kind auf die ITS gebracht werden wird.
Unser Herzchen soll heute die Ross-Konno-OP bekommen, kein leichte Eingriff wie wir wissen, aber wir haben vollstes Vertrauen zu unserem Chirurgen, er ist eine ware Koryphäe auf seinem Gebiet, es wird schon alles gut gehen.
Gegen halb vier erhalten wir die Nachricht, dass die OP vorbei ist und unser Kind nun auf die Intensivstation gebracht wird. Während wir noch warten bis er an die Beatmung, die Monitore, die Medikamente angeschlossen ist, entdecken wir den Anästhesisten, der die Narkose gemacht hat und bekommen die Möglichkeit für ein Gespräch. Er teilt uns mit, dass der Eingriff nicht wie geplant durchgeführt werden konnte, denn als unser Kind auf dem OP-Tisch lag wurde deutlich, dass auch die Mitralklappe – die vorher nie Thema in den Untersuchungen war – viel zu eng war und dass deren Rekonstruktion am heutigen Tag Vorrang hatte. Unser Sohn soll nun mit offenem Thorax auf die ITS gebracht werden, damit die Chirurgen morgen früh den Ross-Konno-Eingriff durchführen können.
Angst schnürt mir die Kehle zu. Es ist für mich unvorstellbar, dass dieser winzige Kerl sich am nächsten Tag nochmal einem solchen Eingriff unterziehen soll. Hat der kleine Körper dafür überhaupt noch Kraft? Wie wird er aussehen, werde ich diesen Anblick ertragen ohne zusammenzubrechen? Wie soll ich einen weiten Tag mit dieser Furcht klarkommen, wird alles gut gehen? Ich male mir schlimme Dinge aus.
Kurz darauf dürfen wir unser Kind sehen. Arm sieht er aus, er ist blass, intubiert, sediert, relaxiert, der offene Thorax ist zum Glück mit einem Klebeverband – durch den Blut sickert – verdeckt.
Gegen halb acht müssen wir die ITS verlassen. Man sagt uns noch, dass unser Kind morgens noch vor acht in den OP gebracht werden wird, wir können ihn vorher also nicht mehr sehen. Schweren Herzens verabschieden wir uns von dem kleinen Menschlein und ich verlasse die Intensiv mit einem unguten Gefühl in meinem Herzen…
15.01.2011
Ein Anruf reißt uns gegen acht Uhr morgens aus dem Schlaf. Uns ist sofort klar, dass das nur das Kinderherzzentrum sein kann. Die zweite OP gestern war erfolgreich, der Chirurg optimistisch, dass unser Kind mit der Ross-Konno einige Jahre Zeit haben wird, ehe er erneut operiert werden muss. Dennoch beschlich mich schon gestern Abend ein ein ungutes Gefühl, schließlich hatte unser Sohn zwei neun Stunden Eingriffe hinter sich. Und als mein Mann auf dem Rückweg zur Pension sagte, dass wir jetzt das Schlimmste hinter uns hätten, So wusste ich doch intuitiv, dass da noch was auf uns zukommen wird.
Stefan nimmt den Anruf entgegen. Eine Schwester teil uns mit, dass die Nacht unruhig war und dass es Komplikationen geben würde. So seien die Blutdrücke an Armen und Beinen sehr unterschiedlich, was auf eine erneute Stenose im oder am Herzen hindeuten könne. Man wolle deshalb jetzt einen notfallmäßigen Herzkatheter machen. Wir bräuchten also vor Mittag nicht da zu sein.
Wir machen uns dennoch recht zügig auf den Weg ins Kinderherzzentrum. Dort angekommen warten wir im Elternzimmer auf Informationen. Es ist Samstag Vormittag, es ist ruhig auf der ITS und die Zeit vergeht sehr langsam.
Gegen Mittag gesellen sich andere Eltern zu uns, denn nun ist in den Intensivzimmern Schwesternübergabe. Langsam machen wir uns Gedanken dass wir nicht informiert werden. Was dauert denn da so lange, wie kann es sein, dass man uns so lange warten lässt? Am frühen Nachmittag betritt eine junge Ärztin das Elternzimmer und bittet meinen Mann und mich ihr zu folgen. Wider Erwartens bringt sie uns nicht zu unserem Sohn sondern führt uns in eines der Ärztezimmer. Ich laufe vor Stefan, verstehe, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt und drehe mich hilflos zu meinem Mann um. Die Ärztin bittet uns, Platz zu nehmen. Dann teilt sie uns nüchtern mit, dass unser Kind im Katheterlabor einen Herzstillstand erlitten hat, dass er 45 Minuten reanimiert werden musste, dass der gestern verschlossene Thorax erneut geöffnet wurde, dass die Situation kritisch sei. Mein Kind sein notfallmäßig an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen worden, diese Maschine würde aber gleich gegen eine andere, eine sogenannte ECMO getauscht werden müssen. Dieser Eingriff finde auf der ITS statt, weil es zu gefährlich sei, unseren Sohn zu bewegen.
Ich breche zusammen, schreie, dass mein Kind stirbt, Stefan hält mich, ich weiß nicht mehr ein, noch aus, verstehe nicht, was da grade passiert. Eine Schwester reicht mir ein Beruhigungsmittel, welches ich wie in Trance schlucke. Ich beruhige mich ein wenig, kann nur noch schluchzen, alles läuft wie in einem Albtraum vor mir ab. Eine andere Schwester führt uns in einen ruhigen Raum, damit wir nicht zurück zu den andere Eltern müssen. Sie sagt uns, dass sie schon viele Wunder erleben durfte, wir sollen die Hoffnung nicht aufgeben. Dann lässt sie uns allein.
Nach einer Weile halte ich es in dem Raum nicht mehr aus. Wir gehen nach vorne, ich setzte mich auf einen Stuhl vor das Elternzimmer und weine still. Noch immer begreife ich nicht wirklich, was hier grade passiert. Mein Mann, ruft derweil unsere Eltern an, dann ist er wieder bei mir.
Am späten Nachmittag dürfen wir zu unserem Kind. Er sieht so verletzlich aus, er liegt in seinem Bett, neben ihm die ECMO, sie wirkt riesig neben meinem zarten Wurm. Die zwei dicke Schläuche, die in meinem Kind stecken, sind deutlich zu sehen. Ich versuche die Maschinen, die unseren Sohn am Leben halten, auszublenden und mich auf mein Kind zu konzentrieren. So ganz gelingt mir das nicht. Ein Pfleger kommt und wie eine Ertrinkende klammere ich mich an jeden Strohhalm, frage ihn ob er glaubt, dass unser Kind die Nacht übersteht. Er kann mir keine Antwort darauf geben, sagt aber, dass im Moment alles soweit stabil aussehe.
Irgendwie stehen wir diesen Tag durch. Ich rede mit meinem Baby, singe ihm vor, streichele seinen Kopf, berühre jede Stelle in der kein Schlauch steckt und die nicht an einem Kabel hängt. Um halb acht müssen wir die ITS verlassen. Eine Schwester sagt uns, dass wir nachts jederzeit anrufen dürfen und sie sich auch sofort melden, sollte es Komplikationen geben.
Die Beruhigunstablette lässt mich ein paar Stunden schlafen, dennoch bitte ich Stefan mehrmals in dieser Nacht auf der Intensiv anzurufen. Die Nacht ist zum Glück ruhig.
❤️
14.01.2021
Das alles ist jetzt genau zehn Jahre her. Und dennoch merke ich, wie präsent diese paar Stunden in meiner Erinnerung noch immer sind. So ganz verarbeitet habe ich das wohl alles noch nicht, aber es wird besser und das Schreiben hilft mir sehr dabei.
Emil (Jajo) ist inzwischen zwölf Jahre alt und es geht ihm aktuell gut. Er besucht die fünfte Klasse einer Gesamtschule, ist nach wie vor körperlich, kognitiv und emotional zwei bis drei Jahre entwicklungsverzögert, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass er lebt und sich trotz all der Komplikationen, die er durchstehen musste, zu einem wunderbaren, fröhlichen und lebensbejahenden Kind entwickelt hat.
In Zukunft werden noch Operationen auf uns zukommen, denn langsam verschlechtern sich Emils Werte. Das alles macht mir natürlich große Angst, aber ich habe vollstes Vertrauen in meinen Sohn, zu den Chirurgen und auch zu uns Eltern. Wir werden es schaffen, was auch immer auf uns zukommen mag, dass hat unsere Geschichte mehr als einmal bewiesen. ❤️