02. September 2016
Emil ist kein wildes Kind. Das war er nie und das wird er wohl auch nie sein. Natürlich tobt er mit seinem Bruder und seinen Freunden, vor allem seit er mehr Kraft und Ausdauer besitzt. Aber er ist trotzdem kein typischer wilder Junge. Johann ist da anders. Er funktioniert alles, was er findet, zu einer Waffe um und tobt und brüllt gerne. Trotzdem ist er ein sehr sensibles und feinfühliges Kind. Emil ist „weicher“ und „zarter“, es wird ihm schnell zu laut und zu wild. Er hat schon immer gerne mit Mädchen gespielt, weil die meistens ruhiger sind und das ist ach heute noch so. Trotzdem können meine Kinder prima miteinander spielen, manchmal über Stunden. Sie bauen Lego, spielen ihre Lieblingsserien nach oder machen Rollenspiele. Wenn Johann aber zu wild wird, wehrt sich Emil dagegen.
Ich bin darüber auch sehr froh. Denn seit Emil Marcumar nimmt, bin ich ständig in Sorge, dass er sich verletzten könnte. Und am zweiten September, zwei Tage vor Emils achtem Geburtstag, passierte es dann: Es war an einem Freitag Nachmittag. Wir hatten Besuch von meiner Freundin Stefanie und ihren beiden Söhnen Elias und Max, die beide ähnlich alt sind wie meine Kinder. Das Wetter war schön, meine Freundin und ich saßen draußen und hatten uns eine Flasche Sekt geöffnet während die Kinder miteinander spielten. Johann und Max spielten im Haus, Emil und Elias waren im Garten. Plötzlich hörten wir Emil laut aufschreien. Stefanie und ich sprangen sofort auf, denn an seinem Weinen könnte ich schon hören, dass Emil sich wirklich böse wehgetan hatte. Und tatsächlich, er war die ca. 1,50m hohe Mauer runtergestürzt, die unser Grundstück umgibt und lag auf der Straße. Er blutete stark am Kopf. Ich war erst wie gelähmt und stürzte dann ins Haus um unseren Verbandskasten zu holen, während Steffi schneller schaltete als ich und zu Emil runter sprang. Sie hob ihn auf und trug ihn zur Haustür, während ich langsam etwas klarer wurde. Ich nahm hin ihr aus dem Arm und brachte ihn in unser Wohnzimmer wo ich ein Stück Wundkompresse auf seinen Kopf presste um die Wunde abzudrücken. Alles war voller Blut. Es lief über sein Gesicht, in seine Ohren, über sein T-Shirt, auf den Boden, auf mich. Kopfwunden bluten ja ohnehin schon stark, aber durch das Marcumar wurde das Ganze natürlich nochmal verstärkt. Steffi fragte, ob sie den Krankenwagen rufen sollte und ich bejahte und bat sie außerdem danach noch Stefan zu benachrichtigen. Emil weinte unterdessen und sagte zu mir: „Jetzt endet mein Leben.“ Es lief mir eiskalt den Rücken runter. Mein kleiner fast achtjähriger Sohn hatte solche Angst zu sterben und ich konnte ihn vor diesen Gedanken nicht schützen. Er hatte in der Vergangenheit einfach zu viele unserer Sorgen um ihn mitbekommen. Er kennt medizinische Begriffe und weiß Dinge über seine Krankheit die kein achtjähriges Kind wissen sollte. Wir versuchen ihn davor zu schützen, versagen aber leider immer wieder bei dem Versuch. Ganz einfach darum, weil wir selber so oft kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen und weil wir so oft Angst um ihn haben. Aber Stefan und ich haben uns vorgenommen in Zukunft besser aufzupassen, dass sich unsere Sorgen nicht auf unsere Kinder übertragen.
Johann hatte den Unfall unterdessen auch mitbekommen und weinte bitterlich, genau wie Elias, während Max neben Emil und mir stand und alles genau beobachtete. Ich bat Steffi sich um Johann zu kümmern, mein kleiner Schatz tat mir so leid, aber Emil war in diesem Moment natürlich wichtiger. Unterdessen hatte ich eine Platzwunde an Emil Kopf ausmachen können und wusste nun, wo genau ich abdrücken musste. Kurz darauf traf der Krankenwagen ein. Ich unterrichtete die Sanitäter über Emils Zustand, über seinen Herzfehler und das Marcumar. Zum Glück war mein Sohn die ganze Zeit über ansprechbar gewesen, trotzdem sorgte ich mich extrem. Ich hatte Angst, dass durch den Sturz Hirnblutungen oder andere innere Blutungen ausgelöst worden waren, denn diese Gefahr besteht unter Marcumarisierung. Das teilte ich den Sanitätern auch mit, weshalb wir gemeinsam beschlossen Emil nicht in die Kinderklinik zu bringen, sondern in ein anderes Krankenhaus. Denn in der Kinderklinik gibt es kein CT und ich war mir eben nicht sicher, ob wir das noch brauchen würden.
Ich hob Emil auf und trug ihn zum Krankenwagen, wo er einen notdürftigen Kopfverband erhielt. Währenddessen war auch Stefan eingetroffen und wir besprachen, dass ich mit Emil im Krankenwagen vor fahren würde, während Stefan im Auto nachkommen würde. Zuerst wollte er aber noch mit Steffi klären, ob sie sich solange um Johann kümmern konnte. Zum Glück war das kein Problem, Steffi würde ihn fürs Erste mit zu sich nach Hause nehmen. Meinen Jüngsten in guten Händen zu wissen, beruhigte mich.
Im Krankenhaus angekommen wurden wir in die Notaufnahme gebracht. Die Sanitäter informierten die Ärzte und Emils Wunde wurde versorgt. Anschließend bekam er ein Ultraschall von seinem Kopf und wurde geröntgt, zum Glück blieb Beides ohne Befund. Stefan war inzwischen auch eingetroffen, was sowohl Emil als auch mich beruhigte. Die Mediziner sahen keinen Grund, Emil der Strahlung eines CTs auszusetzen, sie wollten die Wunde nur nähen und Emil über Nacht zur Beobachtung da behalten. Emil weinte immer noch, er hatte zum Glück kaum Schmerzen, fürchtete sich aber vor der Spritze, die er zur Betäubung erhalten sollte. Für Emil sind Spritzen, Blut abnehmen und Zugänge legen das Schlimmste überhaupt, davor hat er wirklich Angst. Also beschloss der Arzt Emil ein leichtes Sedativum zu verabreichen. Während unser Sohn in Sedierung genäht wurde, warteten Stefan und ich vor der Tür.
Anschließend wurden wir auf die Intensivstation des Krankenhauses gebracht. Das war das erste Mal, dass wir uns auf einer nicht pädiatrischen ITS befanden. Zum Glück erhielt Emil ein Einzelzimmer, in dem ich bei ihm bleiben konnte. Da Emil immer noch schlief, fuhren Stefan und ich schnell nach Hause, um ein paar Dinge für ihn und für mich zu holen. Danach brachte Stefan mich zurück in die Klinik. Kurz darauf wachte unser Schatz auf und war zum Glück relativ fit, so dass Stefan fahren konnte um Johann abzuholen. Emil und ich kuschelten noch ein wenig, bevor wir beide erschöpft einschliefen.
Die Nacht war unruhig. Alle zwei Stunden kam eine Schwester in unser Zimmer, um nach Emil zu sehen. Dabei wurde dem armen Kerl jedes Mal in die Augen geleuchtet um die Reaktion seiner Pupillen zu überprüfen. Zum Glück war alles ok.
Am nächsten Morgen erfuhren wir bei der Visite, dass Emil an diesem Tag noch nicht entlassen werden konnte. Die Ärzte wollten ihn noch weiter beobachten, um wirklich alle Gefahren einer Hirnblutung ausschließen zu können. Emil begann zu weinen als er das hörte, denn er hatte ja am nächsten Tag Geburtstag. Also löste Stefan mich tagsüber bei Emil ab damit ich Zeit hatte Emils Geburtstag vorzubereiten, einen Kuchen zu backen, die Geschenke einzupacken, das Wohnzimmer wenigstens ein bisschen zu schmücken und mich um Johann zu kümmern. Abends tauschten wir wieder und ich verbrachte eine weitere Nacht auf Intensiv bei unserem Kind.
Am nächsten Morgen weckte ich Emil mit einem Geburtstagslied, einem kleinen Geschenk und einem Teelicht. Ich wollte ihm den Start in seinen Tag so schön wie möglich machen. Und er freute sich wirklich sehr. Kurz nach der Visite wurden wir dann zum Glück wirklich entlassen und Stefan und Johann kamen um uns abzuholen.
Zu Hause wurde Emils Geburtstag dann noch ordentlich gefeiert, mit Kuchen, Geschenken und Kerzen. Nachmittags kamen die Omas und mein Bruder mit seiner Familie und so wurde es trotz allem noch ein schöner Tag für meinen Großen.
Ich bin so froh, dass wir so glimpflich davon gekommen sind. Ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte passieren können!