Kraftraubende Momente

Juni 2016

Eigentlich lief seit der OP im April alles ziemlich gut bei Emil. Das Herz arbeitete mit den neuen Klappen sehr viel besser als vor dem Eingriff und auch der Schrittmacher machte seinen Job gut. Man kann kaum noch das Herzgeräusch mit dem Stethoskop hören. Außerdem entwickelte der kleine Mann langsam recht viel Energie und Kraft, so stellte das Treppen steigen kaum noch ein Problem dar. Auch das Messen des INR Werts – des Gerinnungswertes für das Marcumar in Emils Blut –  verlief ohne Probleme. Er lag immer im Zielbereich. Alles war super, Stefan und ich begannen nach langer Zeit endlich uns etwas zu entspannen. Bis zu Emils erstem Infekt post OP. Ab da ging alles drunter und drüber.

Emil bekam an einem Freitag Nachmittag – wie sollte es auch anders sein – heftiges Fieber. In der Nacht zu Samstag stieg es auf über 40 Grad, weshalb Stefan und ich uns entschlossen am Samstag Nachmittag in die hiesige Kinderklinik zu fahren. Dort wurde eine Mandelentzündung diagnostiziert und Emil bekam Antibiotika verschrieben. Emil nimmt seit der letzte OP Marcumar, einen Gerinnungshemmer. Stefan und ich hatten in der Marcumar-Schulung gelernt das der INR Wert (der Gerinnungswert von Emils Blut) – welchen wir einmal die Woche messen müssen – durch das Antibiotika und das Fieber reagieren kann. Wir sollten also an diesem Samstag Abend den Wert messen. Emil Zielwert liegt zwischen drei und vier. Ist der Wert zu hoch besteht Blutungsrisiko, ist er zu niedrig besteht die Gefahr das sich auf dem künstlichen Mitralklappenersatz Thromben bilden, die eine Lungenembolie oder einen Hirninfarkt auslösen können. Ich werde im Kapitel Marcumar noch näher darauf eingehen.


An diesem Abend lag der Wert bei 4,1, war also etwas zu hoch. Nach Absprache mit Gießen ließen wir an diesem Samstag das Marcumar weg und gaben Jajo am folgenden Sonntag nur eine viertel Tablette, normalerweise bekommt er eine Halbe. Montag sollte ich wieder messen. An diesem Tag war Stefan beruflich in Ulm. Emil hatte mich angesteckt und ich fühlte mich hundeelend. Als ich abends um sieben den INR Wert maß, lag er bei 2,5, war also viel zu niedrig! Wir hatten in der Schulung gelernt, dass Emil ab einem Wert von 2,5 an diesem und dem folgenden Tag eine Heparin Spritze benötigte, um das Blut schnellstmöglich zu verdünnen. Ich fuhr also abends um halb acht mit beiden Kindern in die Kinderklinik. Dort mussten wir knapp zwei Stunden warten, weil die hiesigen Ärzte sich weder mit dem Herzfehler noch mit der Dosierung des Heparins auskannten. Die Kinder waren überdreht und todmüde und tobten in dem Untersuchungszimmer rum und ich hatte keine Kraft mehr sie zu stoppen. Die Angst und die Erkältung zerrten an meinen Nerven und ich schimpfte sehr viel mit den beiden. Als die Ärztin endlich mit der richtigen Dosierung kam, war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Ich ließ mich von der Ärztin anleiten und gab Emil die Spritze in den Bauch, den so konnte ich es darauffolgenden Tag ohne Hilfe selber machen. Danach fuhren wir erschöpft nach Hause.

Dienstag war ich dann so richtig krank, hatte über 39 Grad Fieber. An diesem Tag unterstützte mich meine Mutter, so könnte ich mich etwas ausruhen, denn am kommenden Tag hatten wir einen Termin zur Nachkontrolle in Gießen, zu dem ich mit Emil alleine fahren musste. Am nächsten Tag war ich zwar noch nicht wieder fit, fühlte mich zum Glück aber besser als am Tag zuvor. In Gießen erhielten wir erst einmal gute Nachrichten. Das Herz und der Schrittmacher funktionieren einwandfrei. Wir sollten erst in sechs Monaten zur Kontrolle wiederkommen. Leider wurde Emil nicht von unserem Lieblingskardiologen untersucht sondern von zwei Ärztinnen, die ihn und seine Krankengeschichte nicht sehr gut kennen. Die beiden programmierten nach dem Ultraschall auch noch an dem Schrittmacher rum.

Abends zu Hause sollten wir wegen des Infekts erneut den INR Wert messen. Und dieser lag bei 5,3, war also diesmal viel zu hoch! Wieder stieg Panik in mir auf. Stefan telefonierte mit Gießen und man sagte uns, dass wir Ruhe bewahren sollten. Guter Witz! Wir fütterten Emil mit Spinat, denn der enthält viel Vitamin K, was den INR Werrt senken kann. Trotzdem blieb die Angst und die Unsicherheit. Wie konnte es nur sein, dass der Wert innerhalb von zwei Tagen von 2,5 auf 5,3 gestiegen war? Alles wegen des Antibiotikums?

Wie immer legte ich meine Hand auf Emils Herz, diese Geste hat sich bei mir eingebrannt, das mache ich automatisch mindestens einmal am Tag. Und wieder bekam ich einen Schreck. Das Herz schlug viel zu schnell. Emils Schrittmacher steht auf einer Frequenz von 70, sollte also im Ruhezustand nicht höher gehen. Zusätzlich zu der Panik wegen des zu hohen INR Wertes gesellte sich jetzt also noch die Angst, dass Emil erneut in eine Tachykardie gerutscht sein könnte. Stefan und ich gingen mittlerweile auf dem Zahnfleisch. Als aber nach und nach im Ruhezustand die Frequenz fiel war uns klar, dass Emil nicht tachykard war. Wir beschlossen also bis zum nächsten Morgen abzuwarten und dann erst zu entscheiden, was zu tun war.

Am darauf folgenden Morgen stieg Emils Herzfrequenz erneut rasant an nachdem er aufgestanden war. Also fuhr ich nach einem Telefonat mit Gießen erneut ins Kinderherzzentrum und das obwohl ich Johann versprochen hatte, ihn an diesem Tag schon mittags aus dem Kindergarten abzuholen. In Gießen angekommen, mussten wir zum Glück nicht lange warten und glücklicherweise war diesmal auch unser Lieblingskardiologe da. Ich war so froh ihn zu sehen, dass ich ihn kurz umarmen musste. Der Arzt stellte schnell fest, dass der Schrittmacher viel zu sensibel eingestellt war. Er trieb die Frequenz schon bei der kleinsten Erschütterung hoch, beispielsweise wenn Jajo hustete. Und der hustete zu diesem Zeitpunkt ziemlich viel. Nachdem das behoben war, durften wir zum Glück wieder heim. Zu Hause angekommen holte ich meinen Jüngsten sofort aus dem Kindergarten und gab mir große Mühe den Tag trotz des vielen Stresses noch zu genießen. Nachmittags fütterte ich Emil noch einmal mit Spinat um den INR Wert weiter zu senken. Denn Emil nahm immer noch das Antibiotikum und ich konnte nicht einschätzen, wie sich das weiterhin auf den Wert auswirken würde.

Am Abend darauf lag der Wert bei 3,3, war also im absolut grünen Bereich. In den Tagen danach fiel er stetig, bis er Sonntag – einen Tag nachdem Jajo die letzte Dosis Antibiotika erhalten hatte – auf einmal bei 2,2 lag. Wir fuhren also erneut in die Kinderklinik. Leider war nur ein Wochenenddienst da der aus einer Kinderarztpraxis in der Nähe kam und weder Emil noch seine Krankengeschichte kannte. Wieder warteten wir eine knappe Stunde, obwohl ich der Ärztin die Dosierung der Heparinspritzen nennen konnte. Dieses Mal waren zum Glück Stefan und Johann dabei. Und dieses Mal erhielten wir ein Rezept für das Herparin, so dass wir es jetzt auch zu Hause haben, sollte der Gerinnungswert wieder mal so aus dem Ruder laufen.


Zwei Tage später war Emil wieder soweit fit, dass wir zur Ergotherapie gehen konnten. An diesem Tag machten er und seine Therapeutin Waffeln, eine Tätigkeit die er sehr liebt. Als ich ihn nach der Stunde abholte, klagte Emil auf einmal über sehr starke Schmerzen im Oberbauch rechts, unterhalb des Rippenbogens. Er wurde von jetzt auf gleich blass und kaltschweißig, weinte vor Schmerzen und wollte sich hinlegen. Wegen des zu niedrigen INR Wertes dachte ich sofort an eine Lungenembolie und mich überfiel erneut die Panik. Ich bat unsere Ergotherapeutin einen Krankenwagen zu rufen. Während wir auf den Notarzt warteten, rief ich Stefan an damit er goggelte,  wie sich eine Lungenembolie äußert. Ich stand mittlerweile kurz vor einem Nervenzusammenbruch und kurz davor in Tränen auszubrechen. Doch ich riss mich zusammen, denn ich wollte meinen Sohn nicht noch mehr erschrecken. Unterdessen meinte Emil, dass er sich Erbrechen müsse. Nachdem der arme Kerl sich in einen Mülleimer erbrochen hatte, fühlte er sich ein wenig besser. Trotzdem untersuchte ihn der Notarzt auf Symptome eines Schlaganfalls und einer Lungenembolie und wir beschlossen ihn vorsichtshalber in die Kinderklinik zu bringen. Zum Glück waren die Sättigung und die Herzfrequenz die ganze Zeit über stabil. Trotzdem fuhren wir – mal wieder – mit Blaulicht in die Kinderklink. Emil ging es mittlerweile so gut, dass es die Fahrt so richtig genießen konnte. Ich nicht. Ich lief mittlerweile am Limit, es war einfach zu viel gewesen in den letzten Tagen.


In der Klinik fiel mir urplötzlich Emils Gallenstein wieder ein. Dieser war nach dem Herzkatheter im August letzten Jahres diagnostiziert worden. Emil hatte bis zu seiner OP im April ein Medikament dagegen eingenommen, doch leider hatte sich der Gallenstein nicht verkleinert. Durch den ganzen Stress vor und nach der OP war der Stein irgendwie in Vergessenheit geraten. Bis er mir jetzt wieder eingefallen war. Ich erzählte der Kinderärztin in der Klinik von meinem Verdacht und sie veranlasste einen Ultraschall. Und er war tatsächlich noch da. Emils Schmerzen ließen sich also vermutlich darauf zurückführen. Das es meinem Sohn seit dem Erberchen wieder gut ging, sprach auch dafür. Emil wurde noch etwas Blut abgenommen, dann durften wir endlich nach Hause. Stefan – der Johann inzwischen aus dem Kindergarten geholt hatte – fuhr uns heim.

Ein paar Tage später – Emil war grade bei meiner Schwiegermutter – trat diese Kolik erneut auf. Wieder hatte Emil Schmerzen, wieder wurde es nach dem Erbrechen besser. Übermorgen haben wir einen Termin beim Kinderarzt für einen Ultraschall. Danach wird entschieden, ob wegen des Gallensteins Handlungsbedarf besteht. Ich hoffe so, dass bei uns bald mal Ruhe einkehrt. Die haben wir alle so bitter nötig. Auch Johann leidet sehr unter der Situation. Er nässt wieder ein und weint nachts manchmal schrecklich. Dann gibt er an, dass er überall Schmerzen hat. Vermutlich weil er sich zurück gesetzt fühlt. Meine armen Kinder…. 🙁