Die Angst ist immer dabei

Februar 2017

Wenn du ein chronisch krankes Kind hast musst du irgendwie lernen, mit der ständigen Angst zu leben. Du wirst lernen müssen, nicht ständig mit dem Schicksal zu hadern, dich nicht immer wieder zu fragen: “ Warum hat es uns getroffen, was hätte ich in der Schwangerschaft anders machen können oder wie soll ich es nur schaffen meinem Kind eine starke Mutter zu sein wenn ich selber so am Ende bin?“ Das ist nicht immer einfach und du wirst sowieso keine befriedigende Antwort erhalten können.  Die meiste Zeit über gelingt mir das recht gut, doch es gab und gibt noch immer viele Tage, an denen ich einfach nur verzweifelt bin. In diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass mich das alles auffrisst und ich möchte mich am liebsten in meinem Bett verkriechen, die Decke über den Kopf ziehen und die komplette Verantwortung abgeben. 

Zum Glück führen wir trotz allem ein relativ normales Leben mit sehr viel Alltag. Wir haben oft monatelang Ruhe vor irgendwelchen Katastrophen oder Kataströphchen, was uns die Möglichkeit gibt in dieser Zeit neue Kraft und Energie zu tanken. Und dann plötzlich trifft uns wieder die Angst vor irgendeiner Situation, unvorbereitet und mit voller Wucht. 


Die Angst ist nicht weniger geworden seit Emils letzte OP, aber sie hat sich neu fokussiert. Vor dem letzten Eingriff hatte ich ständig Angst, dass das  Herz meines Kindes einfach aufhört zu schlagen. Natürlich war diese Sorge nicht rational, die Ärzte hatten uns oft genug versichert, dass das nicht passieren kann. Trotzdem war sie da. Und sie war ja in unseren Augen auch nicht ganz unbegründet, schließlich hat Emil ein sehr krankes Herz mit vielen verschiedenen Baustellen und wir haben unser Kind schon im schlimmen Zustand sehen müssen. Diese Bilder brennen sich einem ins Gedächtnis, man wird sie niemals ganz los. Die zweite große Sorge war, dass Jajo wieder Vorhoftachykardien entwickeln könnte. Auch diese Angst kommt nicht von ungefähr, denn er hatte schließlich jahrelang damit zu tun gehabt. Erst seit der Medikamentenumstellung von Rytmonorm auf Sotalol im April 2015 waren die Rhythmusstörungen nicht mehr aufgetreten. Trotzdem: Die Angst blieb. Und so kam es, dass ich jeden Abend wenn Emil schlief, als erstes meine Hand auf seine Brust legte um zu fühlen, ob sein Herzchen noch im richtigen Tackt schlägt oder ob es überhaupt noch schlägt. Auch nachts war es nicht viel besser, oft wachte ich auf und ging in sein Zimmer um nach ihm zu sehen und seinen Herzschlag zu fühlen. Stellte ich dabei fest, dass er nass geschwitzt war, machte ich mir wieder Sorgen. Wir wurden bei den Kontrollterminen immer gefragt ob Emil viel schwitzt, denn das konnte auf eine Verschlechterung seines Zustandes hindeuten. 


Bei jedem Husten, jedem Niesen das abends aus einem der Kinderzimmer drang, sahen mein Mann und ich uns an und hofften beide inständig, dass es Johann war, der da hustete. Denn Emil bekam keine normale Erkältung. Er bekam auf Grund des hohen Lungendrucks – den er durch die zu enge Mitralklappe hatte – stets eine Bronchitis oder schlimmstenfalls eine Lungenentzündung. Das bedeutete jedes Mal , dass er Antibiotika benötigen würde. Denn da Emil schon damals einen Klappenersatz hatte, mussten wir akribisch darauf achten, dass seine Endokarditisprophylaxe eingehalten wurde. Das Endokard ist die Herzinnenhaut, zu der auch die vier Herzklappen gehören. Dieses kann sich bei Menschen die unter einem Herzfehler leiden – besonders bei denjenigen, die einen Klappenersatz haben – leicht entzünden. Unbehandelt kann das zum Tode führen. Dazu kam noch, dass Emil während eines fiebrigen Infektes oft noch zusätzlich in eine Vorhoftachykardie abrutschte, was uns in der Vergangenheit schon einige Krankenhausaufenthalte beschert hatte. Die Angst und die Sorgen schwangen also bei jedem Infekt mit.


Seit April 2016 richtet sich die Angst nun auf andere Dinge. Die OP war erfolgreich gewesen, Emils Herz arbeitet mit den beiden neuen Klappen und dem Schrittmacher sehr viel besser als vor dem Eingriff. Das Sotalol konnte reduziert und das Beloc Zok sogar ganz weggelassen werden. Unser Sohn hat viel mehr Energie als vorher, er schafft es mittlerweile sogar mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Treppe zu seinem Klassenzimmer zu bewältigen. Das wäre vor dem Eingriff noch undenkbar gewesen. Natürlich ist da noch ein weiter Unterschied zu gesunden Kindern, aber er holt langsam auf.

Nun fokussiert sich die Angst von Stefan und mir auf das Marcumar und dessen Folgen. Das Medikament ist ein Gerinnungshemmer, ich habe in einem der vorherigen Kapitel ja bereits ausführlich darüber berichtet. Wir machen uns nun viel mehr Sorgen, dass sich Emil verletzten könnte als vorher. Am schlimmsten ist es dann, wenn er nicht bei mir ist. Bei jedem Anruf aus der Schule zucke ich zusammen, Stefan geht es da nicht anders. Ich möchte ein kurzes Beispiel geben: Vor zwei Wochen war ich vormittags in der Stadt, als mein Handy klingelte. Ich fand es in meiner zugegeben etwas zu großen Handtasche nicht sofort, so dass die Mailbox ran ging. Als ich es endlich aus der Tasche rausgewurschtelt hatte sah ich, dass die Schule angerufen hatte. In diesem Moment geriet ich irgendwie in ein Funkloch, ich konnte weder die Mailbox abhören, noch selbst telefonieren oder eine Nachricht schreiben. Das einzige was ich sehen konnte war, dass Stefan zweimal versucht hatte mich anzurufen. Ich würde panisch und überlegte krampfhaft, wo ich ein Telefon finden konnte. Da fiel mir die Apotheke ganz in der Nähe ein, die Emils Medikamente herstellt und ich hoffte, dass die Apotheker mich erkennen und telefonieren lassen würden. Während ich zur Apotheke hechtete, sah ich mein Kind in meiner Phantasie am Fuß der Schultreppe in einer Blutlache liegen, sah Krankenwagen und Notarzt vor der Schule stehen. In der Apotheke lies man mich zum Glück wirklich telefonieren und ich erreichte Stefan der mir mitteilte, dass die Schule nur angerufen hatte weil die letzten beiden Stunden ausfielen. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen und ich machte mich auf dem Weg zum Auto. Unterwegs fiel die komplette Anspannung von mir ab, so dass ich schließlich heulend mitten in der Stadt stand.

Und als ob das nicht alles schon genug wäre kommt dazu noch die ewige Sorge wegen des INR Wertes. Der gerät bei fast jedem Infekt aus dem Ruder, ich habe ja bereits im letzten Kapitel darüber berichtet. Insofern hat sich kaum etwas geändert: hören Stefan und ich ein Husten oder ein Niesen aus einem der beiden Kinderzimmer, so hoffen wir nach wie vor das es Johann ist. Dieses Mal allerdings aus anderen Gründen als noch vor einem Jahr. 😔