Jedes Mal, wenn im Kinderhezzentrum Gießen ein Kind stirbt, wird eine bestimmte Kerze auf Czerny entzündet. Dieses Kapitel möchte ich all den Kindern widmen, die während unserer Zeit dort gestorben sind. Noch heute denke ich sehr oft an sie und bin gleichzeitig so froh, dass unser Wurm nicht zu ihnen gehört.
Das erste Kind, dessen Tod ich bewusst auf der Intensivstation mitbekommen habe, kannten wir zum Glück nicht persönlich. Wir hörten nur, dass dieses Kind Samstag Nacht notoperiert werden musste. Die OP dauerte die ganze Nacht bis spät in den Mittag hinein. Gegen halb drei mussten wir das Intensivzimmer verlassen, weil das Kind aus dem OP hochkommen sollte. Als wir zwei Stunden Stunden später wieder zu unserem Wurm durften, war der Platz wo es liegen sollte leer. Ich fragte die Schwester, ob das Kind gestorben war, worauf sie nur antwortete: „Tja, wenn da keiner mehr liegt…..“ Dazu muss man sagen, dass die Schwestern mit Eltern nicht über andere Kinder reden durften, selbst wenn die Eltern sich im Elternzimmer sowieso alles erzählt haben und man eigentlich Bescheid wusste.
Das zweite Sternenkind ist Furkan. Er war eineinhalb Jahre alt, Emils Zimmergenosse auf Czerny und so unfassbar süß und lieb. Er wartete auf der Station auf ein neues Herz. Der kleine Mann war die ganze Zeit ohne seine Eltern da, die kamen nur einen Nachmittag in der Woche um ihn zu besuchen. Allein das ist so unfassbar traurig, ich werde niemals verstehen, wie man seinem Kind so etwas antun kann. Angeblich konnten die Eltern nicht öfter kommen, weil sie noch ein weiteres Kind zu Hause hatten. Trotzdem, das lässt sich doch organisieren! So wurde Furkan den ganzen Tag entweder von der Erzieherin auf Czerny, Andrea, mitgenommen oder die Schwester die grade Dienst hatte kümmerte sich um ihn. Hin und wieder streichelte ich ihn, wenn er mal wieder allein in seinem Bett lag. Der kleine Kerl tat mir so unfassbar leid! Ein paar Tage lang litt Furkan unter einer ansteckenden Krankheit und musste isoliert werden. Die Zimmertüren auf Czerny haben eine Glasscheibe, die mit einem Rollo verschlossen werden kann. Furkan saß in dieser Zeit stundenlang alleine in einem Kinderwagen vor dieser Glastür und schaute mit traurigen Augen raus auf den Flur. So oft sie konnte nahm Andrea sich Zeit, streifte Krankenhauskittel und Mundschutz über und kümmerte sich um den kleinen Kerl. Außerdem erhielt Furkan Unterstützung von zwei Frauen eines Vereins, der sich ehernamtlich um Kinder kümmert die lange Zeit im Krankenhaus bleiben müssen. Trotzdem verlor der kleine Schatz langsam das Leuchten in seinen Augen. Nach ein paar Tagen konnte Furkan aus der Isolierung entlassen werden und Emil wurde sein neuer Zimmergenossen. Als unser Wurm nach Hause durfte, verabschiedete ich mich herzlich von Furkan. Ich hoffte so, dass er bald ein neues Herz bekommen würde und nach Hause durfte. Zwei Wochen später erfuhr ich von Anke, deren Sohn mittlerweile auf Intensiv lag, dass Furkan gestorben war. Seinem Herz ging es wohl immer schlechter, die Ärzte hatten geplant, ihn an ein Kunstherz anzuschließen. Aber Furkans Eltern wollten dies nicht. So ist der kleine Kerl gestorben. Ich habe so geweint, als ich davon erfuhr.
Dann war da noch Lukas, der Sohn von Anke und Michael. Wie bereits erwähnt, litt auch Lukas unter einem Shone-Komplex. Ich unterhielt mich damals sehr viel mit seinen Eltern, denn es schweißt doch zusammen, wenn das Kind denselben Herzfehler hat. So erfuhr ich von Anke, dass der Chef der Kinderkardiologie und der Chef der Chirurgie kurz vorher zusammen gesessen hatten, um über das weitere Vorgehen in Lukas Fall zu beratschlagen. Das Hauptproblem bei dem kleinen Kerl war die viel zu enge Mitralklappe. Da Lukas erst drei Monate alt war, würde eine OP um einiges schwerer werden als bei Emil. Dennoch entschieden sich die Ärzte und Chirurgen nach langer Diskussion dafür. Leider klappte die Rekonstruktion der Mitralkappe nicht und Lukas verlor während und auch nach dem Eingriff sehr viel Blut. Er konnte gar nicht so viel Spenderblut erhalten wie er verlor. Trotzdem kämpfte Lukas tapfer weiter. Drei Wochen nach der OP, wir waren inzwischen zu Hause, bekam ich eine SMS von Anke. Lukas hatte den Kampf verloren! Lange blieb Lukas das einzige Kind mit einem Shone-Komplex welches wir kennenlernen durften. Das ausgerechnet er gestorben war machte mir – neben der Trauer – eine wahnsinnige Angst. Inzwischen haben wir noch ein kleines Mädchen mit der gleichen Diagnose getroffen, dem es soweit gut geht.
Mein viertes Sternenkind hieß Melek. Ich lernte sie während unsers Aufenthalts auf Czerny im Dezember 2011 kennen. Melek war fünf Jahre alt und litt bereits an den Folgen eines postoperativem Schlaganfalls. Dennoch stand sie kurz vor der Entlassung. Am Montag den 12.12. sollte sie mit ihrer Mutter nach Hause gehen. Am Samstag den 10.12. hatte Stefan Geburtstag und wir bekamen Besuch von seiner Verwandschaft. Kurz vor dem Kaffee trinken, gingen Stefan und ich noch mal kurz in die Stadt um etwa Luft zu schnappen. Als wir wieder kamen, teilte uns die Mutter von Emils Zimmergenossen Robert – Melanie – mit, dass es einen Notfall gegeben habe, so sei Melek kurz vorher in ihrem Bett kollabiert, habe die Augen verdreht und gekrampft. Sie war sofort auf Intensiv gebracht worden. Die Geschichte ließ mich den Rest des Tages nicht mehr los. Zwei Tage später bekam Emil einen Schrittmacher implantiert. Während wir auf der Intensivstation warteten um zu ihm zu dürfen, kam Meleks Mutter rein. Sie stand offensichtlich unter starken Beruhigungsmitteln, schaffte es nicht alleine sich die Jacke aus und den Krankenhauskittel anzuziehen. Es war schrecklich. Sie tat mir so unsagbar leid. Nachdem sie kurz bei Melek gewesen war, taumelte sie erneut ins Elternzimmer. Sie sah mich an und sagte: „lass dein Kind niemals los, es kann so schnell etwas passieren. Lass es nie los.“ Diese Situation hat sich für ewig in mein Gedächtnis gebrannt. Emil kam einen Tag später wieder hoch auf Czerny und ich sah Melek und ihre Mutter nie wieder. Monate später erfuhr ich bei einer Kontrolluntersuchung von Andrea, der Erzieherin von Czerny, dass Melek im Sommer gestorben war. Ich werde auch dieses kleine tapfere Mädchen niemals vergessen!