Leidensgenossen

12. Januar bis 10. März 2011

In den zwei Monaten im Kinderherzzentrum Gießen lernten wir unweigerlich viele andere Kinder und deren Eltern kennen. Über einige will ich in diesem Kapitel schreiben. Aus Respekt werde ich die Namen aller Personen ändern.

Während der Zeit auf der Intensivstation verbrachten wir zwangsläufig – wie bereits erwähnt – die meiste Zeit des Tages im Elternzimmer. Zu Beginn, als es Emil so schlecht ging, war ich kaum in der Lage mich mit anderen Eltern zu unterhalten oder mir die anderen Würmer in den Betten neben Emil genauer anzuschauen. Doch je besser es Emil ging, um so mehr nahm ich um mich herum wahr.

In dem Bett neben unserem Wurm beispielsweise lag Anna. Anna war sechs Monate alt und kam wenige Tage nach Emil notfallmässig von Czerny auf die Intensivstation. Auch sie wurde an ein ECMO angeschlossen. Wenig später allerdings ging es ihrem Herzen so schlecht, dass sie ein Kunstherz erhielt und gelistet wurde, das heißt von da an auf ein Spenderherz wartete. Mit ihren Eltern Petra und Sven unterhielten wir uns oft. Wider alle Umstände erholte sich Anna und konnte von der Liste genommen werden. Auch das Kunstherz brauchte sie schon bald nicht mehr. Inzwischen geht es ihr sehr gut.

Dann gab es noch Shirin und Achmet. Die beiden kamen aus dem Oman und waren nur in Deutschland, weil man ihrer Tochter Shanna, sieben Monate, dort nicht helfen konnte. Mit den beiden unterhielten wir uns auf englisch. Später kehrten sie mit Shanna in den Oman zurück mit dem Wissen, dass man auch hier nichts mehr für sie tun konnte.

Tanja und Sascha wurden Mitte Februar mit ihren Sohn Sam nach Gießen verlegt. Der kleine war erst zwei Monate alt, hatte den Großteil seines Lebens aber bereits im Krankenhaus verbracht. Auch er wurde gelistet und erhielt im September ein neues Herz. Später erhielten Tanja und Sascha die Diagnose, dass Sam zusätzlich unter einem Gendefekt leidet. Es geht im inzwischen trotz allem recht gut.

Hülyas Tochter war mit zehn Jahre an Krebs erkrank. Sie wurde von der Krebsstation Piper in Gießen auf die Intensivstation verlegt, weil durch die Chemotherapie ihre Lungen so geschädigt waren, dass auch sie ans ECMO angeschlossen werden musste.

In unserer letzten Woche auf Intensiv lernten ich Simone und Ralf kennen. Ihr Sohn Finn – genauso alt wie Emil – war in der Nacht notfallmässig von Czerny runtergebracht worden. Es ging ihm sehr schlecht und er musste in Narkose gelegt werden. Simone und Ralf verbrachten noch eine lange Zeit in Gießen, bis Fin schließlich im Juli 2011 entlassen werden konnte.

An Carola, Thomas und ihren Sohn Jasper – sechs Monate – erinnere ich mich darum so gut, weil sie am Tag des Herzstillstandes von Emil auch im Elternraum gewesen waren. Nie werde ich das Mitleid in Carolas Augen vergessen.  Jasper wurde nach einigen Tagen auf Czerny verlegt, da ich aber mit Carola auf Facebook befreundet bin, weiß ich, dass es Jasper inzwischen auch sehr gut geht.

An die meisten Eltern und ihre Kinder kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern, jedenfalls nicht an deren Namen. Meist war es so, dass die Kinder nach den geglückten OPs nicht mehr als vier oder fünf Tage auf der Intensivstation blieben, häufig sogar kürzer. Wir freuten uns für jedes  Kind welches hoch auf Czerny kam. Irgendwann, so wussten wir, würden wir an der Reihe sein.

Jedesmal wenn es einem unserer Kinder schlechter ging unterstützten wir einander, trösteten uns, lagen uns weinend in den Armen. Wir waren für einander da, jeder kümmerte sich um jeden. Das gleiche passierte, wenn eines unserer Würmer Fortschritte machte und es ihm besser ging. Wir waren eine Gemeinschaft, eine Solidargemeinschaft. Auch im Elternzimmer bewiesen wir häufig Galgenhumor, scherzten rum und lachten. Das war für mich eine sehr gute Art, mit dieser schlimmern Situation umzugehen. Es tat mir so gut, dass es diese Menschen gab! Sie gaben mir Halt, sie gaben mir Kraft.  Später, als es Emil immer besser ging, trafen Stefan und ich uns abends häufig mit Hülya, Tanja und Sascha, Simone und Ralf sowie Petra und Sven und gingen in Gießen etwas essen oder etwas trinken.  Einen Tag vor der Verlegung von Anna in die Kinderklinik ihrer Heimatstadt, kochten Petra und Sven in ihrem Apartment für Hülya, Simone, Ralf, Tanja, Sascha und für mich. Es wurde ein sehr schöner und feuchtfröhlicher Abend.

Später, auf Czerny, lernte ich noch Anke und Michael kennen. Ihr Sohn Lukas – zwei Monate – litt genauso wie Emil am Shone-Komplex. Er war bis dahin das erste Kind das ich kennenlernte, welches die gleiche Diagnose wie Emil hatte. Leider hat er es nicht geschafft. Er starb Anfang April 2011 an den Folgen einer OP.